obrira

FOCUS Ausgabe 03/2012 von Nadine Goldbach

Profession Spezialbrillen

Wertvolle Helfer für ein unbeschwertes Sehen

Jeder Kunde, der in ein augenoptisches Fachgeschäft betritt, möchte selbstverständlich bestmöglich mit einer Brille versorgt werden und die „Welt des Sehens“ in vollen Zügen genießen. In den meisten Fällen ist dies für den Sehberater realisierbar und weist keine besondere Schwierigkeit auf. Aber es gibt auch Ausnahmen, die den Fachmann vor eine Herausforderung stellen: Zum Beispiel Betroffene der Bechterew-Krankheit.

Haben Sie schon mal etwas von „Morbus Bechterew“ und „Hemianopsie“ gehört?
Die meisten Leser werden diese Frage wahrscheinlich mit „Nein“ beantworten. Wir wollen Ihnen zeigen, was sich dahinter verbirgt und wie Sie als Augenoptiker den Betroffenen optimal in Ihrem Geschäft versorgen können. Zu dieser Thematik haben wir mit einem Fachmann gesprochen, der uns über die wichtigsten Merkmale dieser Krankheitsbilder und deren Versorgung mit einer „Spiegelbrille“ aufklärte.

Die Bechterew-Erkrankung ist eine entzündliche Krankheit, die vor allem die Wirbelsäule betrifft. Im deutschen Sprachraum, in Scandinavien und in Osteuropa hat sich daneben die Bezeichnung „Morbus Bechterew“ eingebürgert. Es handelt sich um eine chronische rheumatische, vor allem das Bewegungssystem betreffende Krankheit, die über entzündliche Prozesse zu einer knöchernen Einsteifung der Wirbelsäule führen kann. „Nach heutiger Schätzung erkrankt in Mitteleuropa rund ein halbes Prozent der erwachsenen Bevölkerung an Morbus Bechterew, einschließlich solcher Fälle, die wegen eines relativ milden oder untypischen Verlaufs nicht erkannt werden. Rechnet man nur die diagnostizierten Fälle, so kommt man auf 0,1 bis 0,2 Prozent der Bevölkerung. Das bedeutet, dass in Deutschland etwa 350.000 Menschen mehr oder weniger stark von der Krankheit betroffen sind und dass bei 100.000 bis 150.000 dieser Patienten die Beschwerden so ausgeprägt sind, dass die Diagnose Morbus Bechterew gestellt wurde „, erläutert Obrira-Geschäftsführer André Schwolow.

Unter dem Krankheitsbild Hemianopsie versteht man einen halbseitigen Gesichtsfeldausfall durch den Verlust eines der beiden Sehzentren im Gehirn, zum Beispiel als Folge eines Schlaganfalls. Den erleiden in Deutschland jedes Jahr über 200.000 Menschen, circa zehn Prozent davon müssen mit starken visuellen Einschränkungen leben, denn bei einer Schädigung des Chiasmas kommt es zu einem Ausfall der äußeren Gesichtsfeldhälften beider Augen (heteronyme bitemporale Hemianopsie). Ein Defekt im weiteren Verlauf der Sehbahn führt zu beidseitigen Gesichtsfeldausfällen entweder der rechten oder der linken Seite (homonyme Hemianopsie).

Potentiale aktiv nutzen

Was also tun, wenn ein Betroffener den Laden betritt und mit einer Brille versorgt werden möchte?

Eine Möglichkeit der Korrektion sind die sogenannten Spiegelbrillen: Je nach Krankheitsbild und -verlauf werden diese ganz individuell gefertigt und angepasst.

Derzeit werden „mangels notwendiger Erfahrung im Umgang bzw. der Anpassung einer Spiegelbrille pro Jahr in Deutschland circa 250 Bechterew-Erkrankte und gerade einmal 70 Hemianopiker mit einer Spiegelbrille versorgt „, sagt Schwolow. Wenngleich diese Versorgungszahlen recht gering erscheinen, waren es vor zehn Jahren gerade einmal zwei Spiegelbrillen für jedes Krankheitsbild pro Jahr. „In Deutschland verzeichnen wir eine besondere Konzentration der Versorgung auf Regionen, in denen sich Augenärzte, Kliniken und/oder Augenoptiker auf diese Klientel spezialisiert haben. Betroffene scheuen für eine erfolgreiche Versorgung weder Kosten noch weite Wegen, um sich entsprechend qualifiziert versorgen zu lassen „, weiß der Low Vision Experte aus Rathenow.

Für den Erkrankten sind die Kosten oftmals als gering zu bewerten, da nach einer augenärztlichen Diagnose und der Erstellung eines Rezeptes der versorgende Augenoptiker einen entsprechenden Kostenvoranschlag bei der Krankenkasse einreichen kann. Nach der üblichen Bearbeitungszeit könne man zu einer 90-prozentigen Wahrscheinlichkeit mit der Kostenübernahme rechnen.

Auf Kundenwünsche eingehen

Der Erkrankte wird mit einer Metallfassung versorgt. Dabei kann es sich um eine neue Metallfassung oder um eine bereits getragene Brille handeln, wenn der Betroffene zum Beispiel schon lange Brillenträger ist und auf sein „Lieblingsstück“ nicht verzichten möchte. André Schwolow betont: „In jedem Fall benötigen wir eine von dem versorgenden Optiker, im Dialog mit dem Kunden ausgewählte, mit der Sehstärke für die Ferne verglaste Brillenfassung. Also durchaus auch die über Jahre gewohnte, gern getragene Lieblingsbrille“. Wichtig sei dabei, dass die Fassung aus lötfähigen Material besteht und zumindest bei der Versorgung der an Morbus Bechterew Erkrankten über eine geeignete Bügelkonstruktion (z. B. Sportbügel) verfüge. „Bei der Anpassung muss generell unterschieden werden, um welche Art der Spiegelbrille es sich handelt. Für die Bechterewbrille benötigen wir ein aussagekräftiges Ganzkörperfoto des Betroffenen von der Seite, wo er die zukünftige Bechterew-Brille fertig angepasst (Bügellänge, Nasenauflage) trägt. Nach den markierten Durchblickspunkten (vom Augenoptiker zu ermitteln) werden durch uns der Auffang- und Umkehr-Spiegel montiert und voreingestellt. Zur besseren Eingewöhnung wird mittels Lochblende der Blick über die Spiegel fokussiert. Nach kurzer Eingewöhnungsphase wird der Betroffene das alternierende Sehen nutzen um mit dem einen Auge die Bordsteinkanten, Gehweggegebenheiten etc. erkennen und mit dem anderen, über die Spiegel umgelenkten Auge sich nach vorn zu orientieren, um beispielsweise herannahende Autos zu erkennen“, erläutert der Fachmann.

Informationslücken schließen

„Die Spiegelbrille für Hemianopiker wird nach der Perimeteraufnahme des Augenarztes, ebenfalls unter Verwendung der für den Betroffenen voreingestellten, für die Ferne verglasten „Lieblingsbrille“ individuell angefertigt. Je nach Art der Hemianopsie (links oder rechts homonym, bitemporal oder binasal) wird ebenfalls mittels Auffang- und Umkehr-Spiegel der ausgefallene Gesichtsfeldteil eingespiegelt. Die Schwierigkeit bzw. der Lernprozess besteht darin, aus der resultierenden Abbildung zweier verschiedener Bilder auf gleichnamige (korrespondierende) Netzhautstellen ein Bild zu erzeugen. Dies hat nur dann Erfolgsaussichten, wenn der Betroffene sein gewohntes Gesichtsfeld noch kennt und die Einschränkung als nicht tolerierbar empfindet.“

Auch das Gewicht wird nur unwesentlich erhöht: Für die Spiegelsysteme kommen circa acht bis elf Gramm Gewicht zur Basisversorgung (Fassung plus Kundengläser) hinzu.

Eine gesonderte Schulung für Augenoptiker sei jedoch nicht notwendig, da bei jeder Versorgung eine telefonische Beratung mit dem Low Vision Experten, auf den aktuellen Fall zugeschnitten, empfehlenswert ist. Zudem fragte sich die FOCUS Redaktion, wo die Vorteile gegenüber einer Versorgung mit Prismen bei dem Krankheitsbild „Morbus Bechterew“ liegen und erfuhren von André Schwolow, dass eine Versorgung mittels Prismen, wenn überhaupt, nur in einem sehr frühen Stadium möglich ist.

Resümierend ist die Korrektion mittels einer Spiegelbrille für die Betroffenen eine wertvolle Hilfe, um ein unbeschwertes Sehen zu ermöglichen.